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  • cmahlow

Punk und Rock'n'Roll


1998 hatte ich einen blauen Eastpack bekommen. Ich war mega stolz drauf. Endlich kein Schulranzen mehr, sondern so ein cooles Ding, dass auch die in der Oberstufe hatten. Mit Sicherheitsnadeln hatte ich Patches daran befestigt. Nirvana. Korn. Destroy Fascism. Durchgestrichenes Hakenkreuz. Ich lebte in der Wohnung meiner Großeltern. Erdgeschoss. Hintenraus Garten. Im kleinen Kinderzimmer mit der alten DDR-Wohnzimmerschrankwand der Eltern stand mein Schlagzeug. An der Wand mit der Kindertapete hing eine rote Fahne mit dem Konterfei von Che. Gleich daneben eine mit den Sex Pistols. Kurzzeitig hatte ich mir die Haare grün gefärbt und trug ein schwarzes T-Shirt mit Hammer und Sichel drauf, das ich meinen Eltern auf einem Volksfest gegen viele Argumente aus den Rippen geleiert hatte. Sechzehn war ich damals und ungefähr das war meine Vorstellung von Punk, Rock'n'Roll, Rebellion und Freiheit. Heute bin ich Achtunddreißig. Lebe in einem ruhigen Kiez in Reinickendorf. Hab Job und feste Beziehung. Treffe mich zum Wein trinken mit Freunden und mache regelmäßig Sport. Die Insignien meiner Jugend schlummern in einer Kiste neben Gameboyspielen und Fotos der ersten, zweite und dritten Jugendliebe. Nicht gerade das, was ich mir damals unter der großen Freiheit des Erwachsenseins vorgestellt hatte. Und trotzdem lebt ein bisschen Rock'n'Roll-Anarchie auch hier und heute in Reinickendorf. Ich drehe am Montag mit dem Hund die Morgenrunde. Ein weißer Transporter steht an der Straßenecke. Vonovia. Eine junge Frau im grauen Arbeitsoverall steht mit dem Rücken zur offenen Beifahrertür, den Kopf leicht nach hinten geneigt: dunkle Haare, goldene Ohrstecker, ein leuchtendes Gesicht. Hinter ihr ein Typ. Er sitzt auf dem Beifahrersitz: fleischige Wangen, auf drei Millimeter kurz rasiertes Haar. Sein Arm liegt eng um ihre Hüften. Sein Lachen strahlt sie an. Auch er trägt den gleichen grauen Overall. Sie sind sich unglaublich nah. Während ich mit dem Hund die Morgenrunde drehe, macht dieses junge Paar miteinander rum, ungezwungen, verliebt und leuchtend. Die scheißen drauf, denke ich. Was-man-so-macht. Wer-so-zuguckt. Was-der-Chef-sagt. Wie-spät-es-ist. Und überhaupt. In diesem Moment scheißen sie drauf und lassen es sich einfach gut gehen. Ich hab damals Patches, Klamotten und Musik benutzt, um irgendwie ein Statement zu setzen, um irgendwer zu sein. Und ich hab mir dabei echt einen abgebrochen. Die beiden da an der Ecke, die einfach morgens kurz vor neun hier in Reinickendorf rummachen, die feiern den Punk. Die feiern den Rock'n'Roll. Die feiern die Liebe auf ihre ganz eigene Art. Ich verneige mich vor Euch, Eurem unbekümmerten Zusammensein und Eurem Leuchten in den grauen Overalls.

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